Die Aachener Straße

Auf dem Stadtplan Kölns gibt es eine Straße, die sich schnurgerade von der Innenstadt nach Westen zieht. Sie beginnt am Rudolfplatz, genauer gesagt der Hahnentorburg, passiert das Belgische Viertel, Lindenthal, Braunsfeld, Müngersdorf, Weiden… Die Rede ist von der Aachener Straße, über acht Kilometer lang und mit Hausnummern, die weit über 1000 gehen. Die Aachener Straße hat viel gesehen im Laufe ihres Bestehens. Lauft ein paar Meter und werft mit mir einen Blick in ihre Vergangenheit.

Kurze Geschichte einer langen Straße

Die Aachener Straße folgt einer Straße aus der Römerzeit, der Via Belgica. Diese Heerstraße führte von Köln nach Westen über Jülich, Heerlen sowie Maastricht in den Niederlanden und Tongern (Belgien) bis ins französische Boulogne-sur-Mer. Eine andere Abzweigung der Route ging bis an die Atlantikküste. Ihren Ausgang nahm die Via Belgica übrigens in der von den Römern als Ost-West-Verbindung angelegten Schildergasse in der Innenstadt.

Entlang der Aachener Straße finden sich heute noch Spuren aus der Römerzeit. Die spektakulärste trägt die Hausnummer 1328: das Römergrab in Weiden. Hier bestattete eine reiche Gutsfamilie ab der Mitte des 2. Jahrhunderts ihre Angehörigen. Es war lediglich der Bestattungs- und nicht der Wohnort der Familie. 1843 entdeckte ein Anwohner die Grabkammer eher zufällig. Sie ging dann an den preußischen Staat über und ist heute als Museum zu besichtigen.

Zugang Römergrab Köln-Weiden und Wächterhaus, © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=50057695

Im Mittelalter blieb die Aachener Straße wie in römischer Zeit dünn besiedelt. Entlang der Straße wurde im 12. Jahrhundert auf dem Areal des heutigen Melaten-Friedhofs ein Siechenheim für Leprakranke gegründet. Das Wort „Melaten“ vom französischen „malade“ (krank) erinnert noch heute daran. Feierlich ging es wiederum zu, wenn die in Aachen gesalbten Herrscher des Heiligen Römischen Reichs über die Aachener Straße in Köln Einzug hielten. An der Hahnentorburg nahm sie der Erzbischof in Empfang. Daher rührt die zeitgenössische Bezeichnung Krönungsstraße für die Aachener Straße, die damals vor den Toren der Stadt lag.

Ausschnitt aus der Kölner Stadtansicht von Arnold Mercator von 1570: Hahnentorburg mit „Straiß off Antorff“, gemeinfrei

Die Straße trug im Laufe der Zeit wechselnde Namen, die vor allem die Ausrichtung nach Westen beschrieben. Auf einer Kölner Stadtansicht von 1570 heißt sie „Straiß off Antorff“ (Straße nach Antwerpen). Im 17. und 18. Jahrhundert ist der allmähliche Übergang zu Aachen als Namenspate auf Karten nachvollziehbar.

Aus der Zeit der französischen Besatzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist ein Straßenschild der „Aachener Chaussée / Chaussée d’Aix la Chapelle“ erhalten. Es befindet sich an der Mauer des Melaten-Friedhofs und ist eines der weniges zweisprachigen Straßenschilder, die wir heute noch in Köln finden.

Im Mai 1882 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, die Aachener Chaussee in Aachener Straße umzubenennen. Glaubt man dem Protokoll der Sitzung, folgte das Gremium damit dem allgemeinen Sprachgebrauch. Im (komplett digitalisierten!) Protokoll heißt es in schön altertümlichem Verwaltungsdeutsch:

„Der Oberbürgermeister macht darauf aufmerksam, daß z. B. der Name Aachener Straße sich festsetze, während wir hier deliberiren.“

Verhandlungen der Stadtverordneten-Versammlung zu Köln, 19. Sitzung vom 4. Mai 1882, S. 155. Der heute unübliche Begriff „Deliberieren“ bedeutet Abwägen, Beratschlagen.

Das späte 19. Jahrhundert brachte der Aachener Straße mehrere Bebauungswellen. Den Anfang machte der Part zwischen Hahnentorburg und Melaten-Friedhof. Hierfür spielte der Bau der Kölner Ringe ab den 1880er Jahren eine große Rolle. Westlich des Friedhofs nahm die Bebauung Ende des 19. Jahrhunderts mit der Eingemeindung von Braunsfeld und Müngersdorf Fahrt auf. Eine Idee von der Aachener Straße im Kaiserreich vermittelt eine Postkarte von 1903. Sie zeigt die Ecke Aachener / Moltkestraße.

Quelle Rheinisches Bildarchiv, Urheber unbekannt.

Auf der Postkarte gibt sich die Aachener Straße urban: vierstöckige Wohnhäuser, Straßenbeleuchtung, Geschäfte, die Gleise der Pferdebahn – Vorläufer der Straßenbahn – und natürlich ein Reiterdenkmal auf einem Dach. Wir reden immerhin über Preußen!

Auch das 20. Jahrhundert brachte große Bauprojekte. Unter der Ägide Adenauers wurde der Sportpark Müngersdorf errichtet, inklusive Stadion, Radrennbahn und weiterer Anlagen. Ebenfalls in der Zwischenkriegszeit entstand der Aachener Weiher. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs daneben der Aachener Berg empor, ein Trümmerberg mit dem Schutt des kriegszerstörten Köln. Heute ist die Aachener Straße eine vielbefahrene Ausfallstraße mit zwei Straßenbahnlinien. Sie endet westlich von Köln und geht in die L361 über.

Eine Straße macht Geschichte

Die alte Dame Aachener Straße strukturiert Köln schon seit knapp 2000 Jahren. Dabei hat die Ost-West-Verbindung unterschiedliche Namen getragen, verschiedenen Zwecken gedient und ihr Gesicht stark verändert. Von der Heerstraße über die dünn besiedelte Straße vor den Toren des mittelalterlichen Kölns bis hin zur Urbanisierung des Westens am Ende des 19. Jahrhunderts: Die verschiedenen Stadien spiegeln die Entwicklung der Stadt als solcher.

Geht man die Aachener Straße aufmerksam entlang geht, gibt es allerlei Spuren dieser Vergangenheit zu entdecken. Die Plakette am Rudolfplatz, die an den Stadtbaumeister Stübben, den Erbauer der Neustadt und der Ringe, erinnert. Der Aachener Weiher, der Melaten-Friedhof, das deutsch-französische Straßenschild. Die Spuren eines römischen Gutshofs auf dem Gelände des Sportparks Müngersdorf. Viele Fundstücke mit Geschichten, die sich dahinter verbergen.

Wenn du wissen möchtest, wie dein Veedel früher aussah, dann schau dir am besten diese Seite von der Stadt Köln an. Hier kannst du historische Stadtkarten von 1492 bis heute auswählen, Kartenausschnitte nebeneinander stellen und ganz nebenbei Köln im Zeitverlauf wachsen sehen.

Zum Weiterlesen:

Hier gibt es einen schönen Überblick über das antike Köln im heutigen Stadtbild: https://www.erlebnisraum-roemerstrasse.de/das-projekt/kommunen/koeln/

Ist das wichtig oder kann das weg?

Denkmäler sind Kinder ihrer Zeit. Sie ehren Personen, feiern Werte und zeigen eine bestimmte Version der Geschichte. Doch was passiert mit Denkmälern, wenn die Personen kritischer gesehen werden und wenn die Werte sich ändern?

Manche werden gestürzt, so das Wissmann-Denkmal in Hamburg. 1968 entfernten Studis der Uni Hamburg es, um auf das Erbe des deutschen Kolonialismus aufmerksam zu machen. Hermann von Wissmann und Hans Dominik, die beiden gestürzten Figuren, waren Kolonialoffiziere. Andere bleiben stehen, sind aber wiederkehrend Diskussionsthema, etwa das Reiterstandbild von Wilhelm II. an der Hohenzollernbrücke in Köln.

Und wieder andere werden umgewidmet. Das schauen wir uns heute am Beispiel des Denkmals am Rumpelstein in Gernsbach (Baden) an. Lies gern vorab den letzten Blogeintrag zu dem Denkmal. Die Kurzversion: Von den Nazis für die gestorbenen Soldaten des Ersten Weltkriegs erbaut, wurde es anschließend fünfmal baulich verändert. Neue Gruppen, derer gedacht werden sollte, kamen beim lediglich oberflächlich entnazifizierten Denkmal hinzu. Gleichzeitig blieben Leerstellen in der Erinnerung an die echten Opfer des Nationalsozialismus. Außerdem stellte sich zusehends die Frage: Soll eine NS-Weihestätte überhaupt als Denkmal genutzt werden?

Ein Denkmal wird umgewidmet

Im September 2019 beschäftigte sich der Gernsbacher Gemeinderat mit dem Kriegerehrenmal. In der Sitzung entschied er, dass es zu einem Mahnmal und Lernort umgestaltet werden sollte. Um das Denkmal zum Sprechen zu bringen, sollte die Gemeinde Infotafeln vor Ort anbringen und Bildungsangebote auf die Beine stellen. In den Folgemonaten fanden sich Freiwillige aus Gernsbach in einem Arbeitskreis zusammen. Die Gruppe erarbeitete Vorschläge zur Ausgestaltung der Infotafeln.

Im Herbst 2020 befasste sich der Gemeinderat erneut mit dem Thema. Nun stellte der Arbeitskreis seine Textvorschläge vor. Das städtische Gremium votierte im ersten Schritt dafür, die offizielle Bezeichnung „Ehrenmal“ durch „Denkmal am Rumpelstein“ zu ersetzen. Im zweiten Schritt segnete es die Infotafeln ab und beauftragte das Stadtarchiv, Bildungsarbeit durch Führungen auf dem Gelände zu übernehmen. Zudem sicherte der Gemeinderat zu, das Monument baulich zu erhalten, inklusive nötiger Reparaturen. Hingegen lehnten die Ratsmitglieder mit knapper Mehrheit die Errichtung eines zusätzlichen Denkmals ab. In der Nähe des umgewidmeten Ehrenmals angedacht, sollte es bislang ausgeblendeter Opfergruppen des Nationalsozialismus gedenken.

Wenn man heute zum Rumpelstein hochläuft, befindet sich das NS-Kriegerehrenmal weiterhin gegenüber von der terrassenförmigen Tribüne. An der Anlage wurde nichts verändert, allerdings sind seitlich die Infotafeln angebracht.

Infotafeln am Denkmal

Die von den Freiwilligen erarbeiteten Tafeln bieten einen Überblick über das Denkmal, seine Errichtung, Ideologie und die Änderungen ab 1945. Die erste Tafel greift sehr schön den Doppelcharakter des Denkmals als Ort der NS-Ideologie und des persönlichen Erinnerns zugleich auf:

Dieses Denkmal ist in vielerlei Hinsicht ambivalent und diskussionswürdig. (…) Es erzählt von Kriegsverherrlichung, Ausgrenzung von Juden, Verdrängung in der Nachkriegszeit, und zugleich wurde es ein Ort des auch persönlichen Erinnerns. Hinter jedem der mehr als 400 hier vermerkten Namen steht ein Schicksal. Mehrere Generationen von Angehörigen haben hier getrauert und ihrer Nächsten gedacht.

Infotafel „Überblick“

Mit dieser sensiblen Einordnung und den weiteren Texten gelingt es Gernsbach, das Denkmal zum Sprechen zu bringen. Ich finde es ist richtig toll, dass sich die Gemeinde entschieden hat, den Ort zu erhalten und ihn umzuwidmen. Dass bei der historischen Einordnung Bürger beteiligt waren, ist ein weiteres Plus. Das Ergebnis mutet der Besucherin mehr zu als ein leicht konsumierbares Denkmal, macht es aber auch interessanter.

Infotafel „Änderungen ab 1945“

Der Rumpelstein ist ein kompliziertes Denkmal und erinnert an unschöne Momente in der Geschichte. Es abzureißen, würde die Ereignisse nicht ungeschehen machen. Als Lernort hat es viel über die lokale Geschichte des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik zu erzählen. In diesem Sinne: Chapeau, Gernsbach!

Und du, Köln?

Als ich mir den Rumpelstein angeschaut habe, kam mir ein anderes schwieriges Kölner Denkmal in den Sinn: das Ehrenmal des deutsch-französischen Krieges (siehe dieser Blogbeitrag). Es steht auf dem Melaten-Friedhof und erinnert an die deutschen Soldaten, die in Kölner Lazaretten 1870/1871 starben. Andere Epoche als der Rumpelstein, aber ähnlich in dem Sinne, dass die Werte des Denkmals nicht mehr in der Form gelten. Preußischer Militarismus ist nicht mehr en vogue.

Wäre das nicht was, wenn wir das Denkmal auf dem Melaten-Friedhof zum Sprechen bringen? Als Grabstätte vieler Männer, als Produkt seiner Zeit und als Abbild deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts? Das würde den Ort nachhaltiger prägen als das Blumengesteck, das die Stadt Köln jedes Jahr zu Allerheiligen niederlegt.

Zum Weiterlesen:

Die Badischen Neuesten Nachrichten haben den Prozess, wie Gernsbach das Denkmal umgewidmet hat, ausführlich begleitet: hier, hier, hier und hier nachzulesen.

Aus Geseke kam der Hinweis (vielen Dank!) auf das örtliche Denkmal für die Toten des Ersten Weltkriegs. Ebenfalls Mitte der 1930er Jahre eingeweiht und mit dem Edda-Spruch „Ewig lebt der Toten Tatenruhm“ versehen. Hier kann man sich anschauen, wie die Stadt den Ort eingerahmt hat.

Reichsadler über Gernsbach

Heute sind die Fundstücke on tour: Unser Fundstück thront hoch über einem Fluss, allerdings nicht dem Rhein. Es hat mich nach Nordbaden verschlagen, nach Gernsbach am schönen Flüsschen Murg, etwa 40 km südlich von Karlsruhe. Hier habe ich ein Denkmal für die Gernsbacher entdeckt, die als Soldaten im Ersten Weltkrieg gestorben sind. Seit seiner Errichtung 1936 hat es eine beeindruckende Karriere hingelegt: von der NS-Weihestätte über abgeschlagene Hakenkreuze, hinzugefügte Denkmalteile und neue Namen bis hin zur historischen Einbettung. Ich lade euch ein zu einer Tour an die Murg!

Architektur im Dienste der Ideologie

Das Denkmal am Rumpelstein, so der offizielle Name, steht auf einer Anhöhe wenige hundert Meter von der Gernsbacher Altstadt entfernt. Es ist weithin sichtbar oberhalb der Murg, die auf dem Foto hinter dem Geländer fließt. Ein Weg schlängelt sich zum Denkmal hoch. Oben bietet sich folgender Anblick:

Das Denkmal ist 14 Meter hoch und neun Meter breit und von zwei Treppen linker- und rechterhand eingefasst. Es ist ein Rund, nach oben offen und besteht aus acht Spitzbögen. Oben mittig ist ein Reichsadler zu sehen. Seine Flügel haben etwas unter der Witterung gelitten und sind schwarz gefärbt. Im Zentrum des Bauwerks steht ein Altar, auf dem ein überdimensionaler Stahlhelm liegt. Der Lorbeerkranz um den Helm ist beschädigt, aber gut erkennbar.

Der Altar steht etwas erhöht und trägt die Inschrift

Den Heldentod im Weltkrieg

1914 – 1918

starben für ihr Vaterland

Auf den anderen drei Seiten des Kubus sind die Namen verstorbener Soldaten und ihrer militärischen Einheit aufgelistet. Weitere Namen finden sich auf Tafeln an den Innenseiten der Pfeiler. Oben läuft ein Spruchband mit einem Zitat aus der Edda, einer nordischen Sagensammlung. Es wird dem germanischen Hauptgott Odin zugeschrieben: „Ewig bleibt wir wissen es der Toten Taten Ruhm.“

Das monumentale Denkmal atmet den architektonischen Geist der NS-Zeit. Der Reichsadler, vormals mit Hakenkreuz versehen, ist dafür ein klares Zeichen. Die Spitzbögen erinnern an das Hochmittelalter und damit an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. In die Tradition dieses Ersten Reichs wollte sich das selbsternannte Dritte Reich stellen.

Außerdem verzichtet das Denkmal auf christliche Bezüge, wenngleich die meisten Toten und ihre Angehörigen wohl christlichen Glaubens waren. Der Altar wird zum Weihestein mit dem Stahlhelm, der soldatischen Pflicht, als höchstem Gut. Spannend ist, dass die Toten kein Geburts- und Sterbedatum haben. So verschmelzen sie zu einer Einheit. Es entsteht der Eindruck einer Gruppe, die für ein gemeinsames Ziel gekämpft hat – auch wenn die Soldaten an verschiedenen Fronten kämpften und sich im Zweifel nicht kannten. Alles, was von ihnen bleibt, ist ihr Name und ihre militärische Einheit.

Anstelle eines biblischen Zitats tritt der Odin-Ausspruch als Teil des Gefallenenkults. Der Bezug zur germanischen Mythologie ist typisch für den Nationalsozialismus. Zwar war die übergroße Mehrheit der deutschen Bevölkerung christlich-praktizierend, dennoch gehörte zum NS-Programm ein Germanenkult, der religiöse Elemente beinhaltete. Er setzt sich im Denkmal insofern fort, als die gesamte Anlage als Thingstätte aufgebaut ist. „Thing“ war der historische Name germanischer Volksversammlungen. In Anlehnung daran befindet sich gegenüber des Denkmals eine Tribüne in Terrassenform mit Sitz- oder Stehplätzen. Hier sollten bis zu 1500 Personen Platz finden.

Der Bau des Denkmals

Gernsbach hatte 1933 trotz mehrerer Anläufe noch kein städtisches Denkmal für die umgekommenen Soldaten des Ersten Weltkriegs. Nach der Machtübernahme der Nazis fiel die Wahl auf den Rumpelstein als Denkmalort. Am 18. Oktober 1936 wurde das Denkmal eingeweiht. Das Datum ist kein Zufall, sondern bewusst auf den Jahrestag der Völkerschlacht 1813 belegt. Im Oktober 1813 hatte die Koalition aus Russland, England, Österreich und Preußen die napoleonischen Truppen bei Leipzig besiegt. In die Tradition der Befreiungskriege sollte sich das Denkmal einreihen.

Das Bauwerk ist sowohl performativ, was die Einweihung angeht, als auch architektonisch ein Abbild des Nationalsozialismus. Das gilt übriges auch in dem, was es nicht nennt. Die Namen zweier gestorbener jüdischer Soldaten aus Gernsbach tauchten auf den Tafeln nicht auf. Sie waren es in Nazi-Lesart nicht wert, dass man an sie erinnert. Die Soldaten hatten in der Regel keine Grabstätte in Gernsbach, sondern waren andernorts beerdigt. Indem man ihren Angehörigen einen Gedächtnisort verweigerte, wurden sie aus der lokalen Erinnerung getilgt.

Oberflächliche Entnazifizierung

Die klare Naziprägung des Denkmals wurde nach Kriegsende zum Problem. Die Hakenkreuze als deutlichstes Zeichen verschwanden 1945/1946 vom Denkmal. Wer sie entfernte, ist unklar – vielleicht städtische Bedienstete? Der Reichsadler und der Edda-Schriftzug blieben, wie auch die gesamte Formensprache des Bauwerks nicht hinterfragt wurde. Es erhielt 1953 sogar eine Erweiterung um die Opfer des Zweiten Weltkriegs.

Eine Gernsbacher Künstlerin gestaltete ein Mosaik, das zwischen den Treppenaufgängen am Fuße des Denkmals eingelassen ist. Es trägt die Widmung

„Unseren Gefallenen 1939 – 1945 die dankbare Heimat“

Darunter sind über 300 Namen aufgezählt, sowohl umgekommener Soldaten als auch von elf zivilen Opfern. Das Mosaik nennt keine Geburts- oder Sterbedaten. Die Toten sind alphabetisch aufgeführt, ohne Unterscheidung zwischen Soldaten und zivilen Opfern. Das ist insofern bemerkenswert, als das Wort „gefallen“ eigentlich klar in Verbindung mit Soldaten steht. Die zivilen Opfer reihen sich gewissermaßen ein.

Mit dieser Veränderung wurde das Denkmal zu einem Ort für Angehörige, die in der Nachkriegszeit an die Verstorbenen erinnern wollten. Auch hier gilt, dass die Gräber der Soldaten in der Regel nicht in Gernsbach waren. Ihre Familien hatten nun einen Ort, an den sie gehen konnten, etwa am Geburtstag eines Toten oder zu Allerheiligen. Dadurch erhielt das Denkmal wiederum neue Legitimation. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erschöpfte sich im wahrsten Sinne des Wortes im oberflächlichen Abkratzen der Hakenkreuze.

Ein Gedenkort für die Vertriebenen

Die nächste große Veränderung der Anlage kam 1960. In diesem Jahr stellte „die Stadt Gernsbach ihren heimatvertriebenen Mitbürgern“ eine steinerne Gedenktafel auf. Sie befindet sich am oberen Ende der Tribüne der Thingstätte.

Die Tafel wird von 22 Wappen eingerahmt. Es sind sowohl Wappen heutiger ostdeutscher Bundesländer, wie Sachsen oder Brandenburg, als auch ehemaliger deutscher Gebiete. Unten links in der Ecke befindet sich zum Beispiel das Wappen Schlesiens mit dem Adler.

Mittig im Hintergrund sind stilisiert sind die Umrisse Deutschlands in wilden zeitlichen Variationen zu erkennen. Die Bundesrepublik und die DDR sind durch einen Schnitt getrennt (Stand 1960). Dafür hängen Schlesien, Pommern und Ostpreußen in den Grenzen von 1937 dran. Der polnische Korridor um Danzig wird ebenfalls kurzerhand zum deutschen Staatsgebiet. Das entspricht dem Stand von 1918. Im Vordergrund steht folgende Inschrift:

Heimat im Osten

Dich sucht unsere Seele

Tote der Heimat

Euch birgt unser Herz

Auffällig ist für mich vor allem die Gleichsetzung der DDR mit den vormals deutschen Gebieten wie Schlesien, die nun größtenteils zu Polen oder zur Tschechoslowakei gehörten. Das habe ich in der Form selten gesehen. Die Initiative für die Gedenktafel ging vom örtlichen Verband der Heimatvertriebenen aus. Vermutlich waren relativ viele Vertriebene in Gernsbach gelandet. Sonst wären sie zahlenmäßig kaum so ins Gewicht gefallen, dass die Stadt einen Gedenkort für sie eingerichtet hätte. Häufig hatte sich ihr Empfang in der unmittelbaren Nachkriegszeit eher negativ gestaltet. Angesichts dessen war die Tafel vielleicht auch eine Anerkennung oder eine Versöhnung von neuen und alten Gernsbachern.

Die schattenhaften Grenzen sind aus heutiger Perspektive irritierend, waren es in der Bundesrepublik der 1960er Jahren aber weniger. So warb die Westberliner CDU 1967 auf einem Plakat mit demselben Umriss Deutschlands. Einzig der Korridor um Danzig fehlt.

Diese Datei wurde Wikimedia Commons freundlicherweise von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen eines Kooperationsprojektes zur Verfügung gestellt. CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30227818

Neue Namen

Von Berlin zurück in den Schwarzwald. 1969 erhielt das Denkmal einen weiteren Zusatz. An der evangelischen Jakobskirche musste ein Denkmal für die Teilnehmer des deutsch-französischen Kriegs 1870/1871 einem Parkplatz weichen. Eine Tafel gelangte vom abgebrochenen Monument an den Rumpelstein. Sie wurde an der äußeren Mauer befestigt und erinnert dort nun an die „Tapfern Gernsbachs“ und namentlich an Theodor Zumbühl. Er starb im Dezember 1870.

Zumbühls Tod lag also fast 100 Jahre zurück. Vielleicht spricht aus der Integration in unser Fundstück auch eine gewisse Verlegenheit. Man wollte 1870/1871 nicht negieren, also wurde es in das große Kriegsdenkmal eingebaut. 1870/1871, 1914-1918, 1939-1945: Der Rumpelstein wurde immer mehr zu einem Sammel-Erinnerungsort für die vergangenen Kriege.

Die wirkliche große Veränderung kam 1985. Sie ist insofern besonders, als sie eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus voraussetzte. Außerdem fußte sie auf dem lokalen Wissen, dass auf den Pfeilern und am Kubus zwei Namen von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg fehlen. Es sind die jüdischen Männer, die die Nationalsozialisten bewusst ausgelassen hatten. 1985 ergänzte die Stadt Gernsbach Max Kohn und Albert Stern und ihre militärischen Einheiten auf zwei Tafeln.

70 Jahre nach ihrem Tod lebten wohl keine Angehörigen der beiden mehr, die ihrer am Rumpelstein gedenken wollten. Ihr Hinzufügen war insofern ein symbolischer Akt später Gerechtigkeit. Ihr besonderer Status drückt sich auch dadurch aus, dass die Schrift rot gehalten ist. Die Namen setzen sich so gegenüber den anderen ab und die Veränderung wird erkennbar.

Ein großes historisches Potpourri

Was für ein Geschichts-Potpourri in einem Denkmal! In der Anlage klar nationalsozialistisch geprägt, wurde es nach 1945 fünfmal baulich verändert. Vier Veränderungen zielten auf neue Gruppen ab, derer gedacht werden sollte: der Toten des Zweiten Weltkriegs, der Vertriebenen, des 1870 verstorbenen Gernsbachers und der beiden verschwiegenen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg.

Mit jeder dieser Veränderung wurde das Denkmal neu legitimiert und als Erinnerungsort anerkannt. Dies geschah auf dem Grund eines NS-Bauwerks. Es fällt auf, dass die echten Opfer des NS-Regimes – Juden, Menschen mit Behinderung, Sinti und Roma, Homosexuelle, politisch Andersdenkende – keinen Platz am Rumpelstein gefunden haben. Ist es angesichts von Odin-Zitat und Gefallenenkult angemessen, hier an jüdische Soldaten zu erinnern?

Hatte Gernsbach diese Frage in den 1980er Jahren noch mit ja beantwortet, wurde Ambivalenz des Denkmals später stärker thematisiert. 2019 befasste sich der Gemeinderat mit der Frage, wie das Bauwerk historisch einzurahmen sei. Ein städtischer Aushandlungsprozess kam in Gang. Dieser Aushandlungsprozess ist sehr spannend und kann andere Städte inspirieren, wie sie mit schwierigen Denkmälern umgehen können. Deshalb heißt es: Fortsetzung folgt!

Herbert Lewin. Medizin und Politik

Im Jahr 2004 verlor die Stadt Köln eine prominente Bewohnerin. Die Bundesärztekammer (BÄK) folgte der Karawane der Institutionen und zog nach Berlin. Die BÄK ist die Spitzenorganisation der ärztlichen Selbstverwaltung und vertritt die berufspolitischen Interessen der Ärzteschaft. Sie residiert nun am Herbert-Lewin-Platz 1 in Berlin-Charlottenburg. Ihre vorherige Anschrift in Köln-Lindenthal war auch in der Herbert-Lewin-Straße, einer Querstraße der Dürener Straße.

So viel Liebe für Herbert Lewin? Nun, die Ärzteschaft hat diese Liebe erst spät entdeckt. Doch der Reihe nach. Schauen wir uns zuerst einmal an, wer Herbert Lewin war.

Arzt, Sozialdemokrat und Shoa-Überlebender

Herbert Lewin, Foto: Zentralrat der Juden Deutschlands

Herbert Lewin kam 1899 in Schwarzenau (Czerniejewo) in der Provinz Posen im heutigen Polen auf die Welt. Er stammte aus einer bürgerlich-liberalen Familie und war jüdischen Glaubens. Nach dem Ersten Weltkrieg studierte er Medizin und legte 1923 das Examen ab. Die wissenschaftliche Karriere, die er angestrebt hatte, blieb ihm vermutlich aus antisemitischen Gründen verwehrt. So arbeitete er als niedergelassener Gynäkologe in Berlin.

Lewin war in den 1920er Jahren der SPD beigetreten und engagierte sich in einem Verein für die Versorgung ärmerer Bevölkerungsgruppen mit Essen. Zudem wies der Arzt in Publikationen auf den Zusammenhang zwischen individueller sozialer Situation und Gesundheit hin.

Als sozialdemokratischer Jude war Lewin gleich mehrfach gefährdet, als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen. Die Ärzteschaft schaltete sich rasch selbst gleich und schloss im März 1933 jüdische Mitglieder aus Vorständen und Ausschüssen ihrer Organisationen aus. Und das waren nur die ersten Schritte des Herausdrängens jüdischer Ärzte aus ihrem Berufsstand. Die Ärzteschaft hatte unter akademischen Berufsgruppen den höchsten Anteil an NSDAP-Mitgliedern. Im Rheinland waren 56 % der Ärzte Mitglied oder Anwärter der NSDAP. Zum Vergleich: Bei Lehrerinnen und Juristen blieb der Anteil unter 25 %.

1937 kam Lewin nach Köln und arbeitete im Krankenhaus des Israelitischen Asyls in der Ottostraße in Neuehrenfeld. 1938 wurde ihm die Approbation und die Berufsbezeichnung „Arzt“ entzogen, als „Krankenbehandler“ durfte er nur noch jüdische Patientinnen behandeln. Lewin wurde 1941 mit seiner Familie deportiert. Seine Frau Alice starb im Konzentrationslager. Herbert Lewin überlebte und kehrte nach Köln zurück.

Nun schlug er die wissenschaftliche Karriere ein, die ihm zuvor versagt worden war, und habilitierte sich 1948. Um seine Berufung als Chefarzt an die Städtische Frauenklinik in Offenbach rankte sich 1949 ein antisemitischer Skandal. Der Magistrat der Stadt entschied sich zuerst gegen die Ernennung Lewins zum Chefarzt. Der Grund?

„Man müsse mit Ressentiments seiner (Lewins) Rasse rechnen, man könne die Frauen Offenbachs nicht einem Dr. Lewin anvertrauen.“

Der Spiegel, 10. November 1949, S. 12.

Die Sache schlug hohe Wellen, die Verantwortlichen mussten zurücktreten. Lewin trat die Stelle in Offenbach 1950 an und wurde später auch Professor an der Universität Frankfurt. Neben seiner medizinischen Karriere hatte er von 1963 bis 1969 den Vorsitz des Zentralrats der Juden in Deutschland inne. Der Arzt starb 1982 in Wiesbaden und ist in Offenbach bestattet.

Die Ärztekammer und ihre Straße

Herbert Lewins Biographie ist in vielerlei Hinsicht beeindruckend. Ein Arzt, der sich trotz der Shoa entschließt, in Deutschland zu bleiben und sich sogar im Zentralrat der Juden einbringt. Die BÄK hätte alle Gründe gehabt, einen integren Arzt wie Herbert Lewin hochzuhalten – wohl wissend, dass sich viele Kollegen vor 1945 die Hände schmutzig gemacht hatten.

Nun, sie tat dies mit einigen Anlaufschwierigkeiten. Ab den 1950er Jahren hatte die BÄK ihren Sitz in Köln-Lindenthal, um die Nähe zur Bundeshauptstadt Bonn zu pflegen. Die Kammer wirkte darauf hin, dass die Straße, in der sie ihren Sitz hatte, 1956 in Karl-Haedenkamp-Straße umbenannt wurde. Fortan lautete ihre Anschrift Karl-Haedenkamp-Straße 1.

Karl Haedenkamp (1889 bis 1955) war ebenfalls Arzt gewesen. Er hatte ab 1933 allerdings nicht auf der Seite Lewins, sondern auf der anderen Seite gestanden. Das betrifft vor allem seine Funktionen als ärztlicher Berufspolitiker und Verbandsfunktionär. Haedenkamp arbeitete in einem ärztlichen Berufsverband und in der Interessenvertretung mit, ab 1933 im Nationalsozialistischen Ärztebund und in der Ärztekammer. Er feierte den neuen Reichskanzler Adolf Hitler 1933 im Deutschen Ärzteblatt, forderte, die Medizin in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen, und unterstützte das „Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses“. Es legalisierte die Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderung oder psychischen Krankheiten. 1939 gab das NSDAP- und SS-Mitglied sein Amt in der Ärztekammer auf und war im Zweiten Weltkrieg Sanitätsoffizier.

Nach Kriegsende baute Haedenkamp die ärztliche Standesvertretung in der Bundesrepublik wieder mit auf. Er starb hochdekoriert mit dem großen Verdienstkreuz Mitte der 1950er Jahre. Wie tief Haedenkamp sich im Nationalsozialismus verstrickte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Gewiss ist, dass er Antisemit war und dem NS-Regime zugearbeitet hatte.

1956 honorierte die BÄK Haedenkamp, indem sie den Kölner Stadtverordneten antrug, die Straße in Lindenthal nach ihm zu benennen. In den 1980er Jahren kam Schwung in die öffentliche Debatte um die Verantwortung von Ärzten im NS. In diesem Zuge schlug die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vor, die Straße in Herbert-Lewin-Straße umzubenennen. Im Mai 1986 folgte die Bezirksvertretung dem Vorschlag. Aus der Karl-Haedenkamp- wurde die Herbert-Lewin-Straße. Die Ärzteschaft kritisierte den Vorgang:

„Die Politiker der Bezirksvertretung sahen 1986 einen Sinn darin, den Namen eines Mannes auf den Straßenschildern ,auszumerzen’, der noch drei Jahrzehnte zuvor wegen seiner Verdienste um den Aufbau des demokratischen Gesundheitswesens nach 1945 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden ist.“

Zitiert nach: Rebecca Schwoch, Walter Wuttke: Herbert Lewin und Käte Frankenthal: Zwei jüdische Ärzte aus Deutschland, in: Deutsches Ärzteblatt 19/2004, A 1319 – A 1321, hier: A 1321.

Die Begeisterung ob der Umbenennung hielt sich deutlich in Grenzen, ebenso das Problembewusstsein, was die ärztliche Verantwortung im Nationalsozialismus angeht.

In knapp 20 Jahren kann sich zum Glück einiges tun. Und so kam es, dass der Wind im Jahr 2004, als die Ärztekammer nach Berlin zog, anders stand. Kurz nach ihrem Einzug in die neuen Räumlichkeiten wurde der Platz vor der BÄK Herbert-Lewin-Platz getauft. Nun ließ ein ärztlicher Vertreter verlauten:

„So wird ein verdienter jüdischer Kollege geehrt, der in Köln gewirkt hat und auch hier in Berlin als gynäkologischer Chefarzt am Jüdischen Krankenhaus.“

Zitiert nach: Sabine Rieser: Herbert-Lewin-Platz: Doppelte Erinnerung. in: Deutsches Ärzteblatt 21/2004, S. 60.

Spuren Lewins in Köln

Was bleibt also von Herbert Lewin in seiner zeitweiligen Wirkungsstätte Köln? Das Krankenhaus in Neuehrenfeld, in dem Lewin ab 1937 gearbeitet hatte, gibt es nicht mehr. An seiner Stelle steht nun ein Jüdisches Wohlfahrtszentrum. Es gehört zur Synagogen-Gemeinde an der Roonstraße und beherbergt eine Grundschule, einen Kindergarten, ein Elternheim und andere soziale Einrichtungen.

Das jüdische Wohlfahrtszentrum an der Ottostraße in Neuehrenfeld, Foto: Elke Wetzig (Elya), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Einen Stolperstein für Lewin gibt es nicht, wohl aber einen für Irma Salomon, geb. Sternberg. Er ist vor der Sürther Hauptstraße 74 zu finden. Irma Salomon war die zweite Ehefrau Herbert Lewins. Auch für sie war es die zweite Ehe, ihr erster Mann war im Konzentrationslager ermordet worden.

Stolperstein von Irma Salomon in Sürth, © 1971markus@wikipedia.de / Cc-by-sa-4.0

Schließlich erinnert uns der Straßenname in Lindenthal nicht nur an den Arzt selbst, sondern auch daran, wie sich die deutsche Ärzteschaft mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzte. Der Weg führte über das Leugnen der eigenen Verantwortung und das Festhalten an einer Person wie Haedenkamp zur Anerkennung der dunklen Flecken. Heute vergibt die BÄK mit dem Gesundheitsministerium und anderen Organisationen jährlich den Herbert-Lewin-Preis. Er prämiert Forschungsarbeiten zur Rolle der Ärzteschaft in der NS-Zeit.

Zum Weiterlesen:

Das Deutsche Ärzteblatt hat ein ziemlich weit online einsehbares Archiv. Es gibt einen ausführlichen Artikel über Herbert Lewin und Käte Frankenthal, beides Mediziner, die während des NS verfolgt wurden. Und hier ein Beitrag zum Umzug nach Berlin und dem Herbert-Lewin-Platz als neuer Anschrift.

Einige historische Artikel des Nachrichtenmagazins Spiegel kann man sich auch online anschauen. Der Spiegel hat sowohl 1949 zum Antisemitismus-Skandal rund um die Berufung Lewins nach Offenbach berichtet, als auch 1981 über Ärzte im Nationalsozialismus. Im letztgenannten Artikel taucht u.a. Karl Haedenkamp auf. Weitere biografische Infos zu Haedenkamp gibt es hier.

Der Sicherheitshafen

Was verbindet den Theodor-Heuss-Park beim Ebertplatz mit der Bastei am Rhein? Sie sind die Überbleibsel eines erfolglosen Großbauprojektes vom Ende des 18. bis ins 19. Jahrhundert: des Sicherheitshafens. Vom Hafen selbst ist nichts mehr zu sehen, aber Park und Bastei führen uns auf seine Spur.

Vom verheerenden Eishochwasser…

Ein Sicherheitshafen ist ein Becken, in das sich Schiffe zurückziehen können, um sich vor Hochwasser und Eis zu schützen. Eisschollen auf dem Rhein sieht man heutzutage selten, aber das war nicht immer so. Der Winter 1784 brachte ein so verheerendes Eishochwasser, dass nicht nur Mülheim schwer zerstört wurde, sondern auch die am Rheinufer liegenden Schiffe. In den Folgejahren wandten sich Schiffer immer wieder an den Rat der Stadt Köln und forderten den Bau eines Sicherheitshafens. Man nahm sich der Sache an, erwog verschiedene Orte – und verschleppte die Sache.

Während der Franzosenzeit ab 1794 kam wieder Wind in die Angelegenheit. Neben den Schiffern traten nun als weitere Akteure die Handelskammer bzw. ihre Vorläufer, die städtische Verwaltung und die französische Präfektur auf den Plan. Sie zogen durchaus nicht alle an einem Strang. Im Gegenteil, die Handelskammer und die städtische Verwaltung hatten vor allem bei Frage, wer wie viel beizusteuern habe, verschiedene Ansichten.

Konflikte hin oder her: Der Präfekt des Rur-Departements stimmte dem Vorhaben, einen Sicherheitshafen zu bauen, 1809 zu. Das Rur-Departement mit der Hauptstadt Aachen war die territoriale Verwaltungseinheit des Kaiserreiches, zu der Köln gehörte. Der französische Ingenieur Abraham Gabriel Mossé entwickelte die Baupläne. Im Januar 1811 unterschrieb Napoleon ein Dekret über die Errichtung eines

Gare ou Port de sûreté à Cologne.

Sicherheitsbahnhofs oder -hafens in Köln. Zitiert nach: Mario Kramp, „Der ganze Bau stand von vornherein unter einem Unglücksstern.“ Der Sicherheitshafen: Köln und seine Großbaustelle 1788-1896, in: Geschichte in Köln 2017 (1), S. 71-97, S. 72.

Das geplante Becken sollte 500 Meter lang sein, etwa 50 Meter breit und sich gen Rhein wie ein Flaschenhals verengen. Die gemauerte Einfahrt für die Schiffe sollte nur 8,50 Meter breit sein und in spitzem Winkel zum Fluss stehen. Für die Einfahrt war eine Brücke vorgesehen. Als Ort hatte sich der Graben am nördlichen Ende der mittelalterlichen Stadtmauer durchgesetzt – dort, wo heute die Bastei steht.

Stadtplan von Köln um 1885, gemeinfrei. Der Plan ist nach Osten ausgerichtet. Der Hafen befindet sich am nördlichen Ende der Stadt (rechts unten). Ebenfalls erkennbar ist der Rheinauhafen im Süden.

Die Bauarbeiten begannen 1811 mit dem Aushub des Hafenbeckens, die Grundsteinlegung folgte 1812. Insgesamt lief der Bau schleppend, kam es doch immer wieder zu Streit um Finanzierung, Größe und Bauausführung. Dennoch überwinterten 1813 erste Schiffe im Hafen. Da war Napoleons Stern aber schon am Sinken, seine Feldzüge scheiterten. 1814 begann die Preußenzeit in Köln.

Phasenweise ruhte die Bautätigkeit, aber bald führte die preußische Stadtverwaltung die Erdarbeiten fort. Dabei ärgerte sie sich mit dem Bauunternehmer Pierre Paravey herum, dem sie eine schlechte Ausführung vorwarf. Der mühsame Bauprozess fand 1829 einen vorläufigen Abschluss. Der Sicherheitshafen war fertig und konnte genutzt werden.

Zum riesigen Tümpel

Schon kurz nach der Fertigstellung des Hafens trat die Fehlplanung zu Tage. Durch den spitzen Winkel zum Rhein war die Einfahrt bei Strömung sehr riskant. Breite Schiffe kamen ohnehin nicht hinein. Zudem war das Hafenbecken zu flach, Kies und Schlamm sammelten sich schnell. Wegen der mangelnden Tiefe konnte es keine größeren, etwa Dampfschiffe aufnehmen. Und schließlich waren die Uferbefestigungen unbrauchbar. Als Alternative wurde in den 1850er Jahren der erste Rheinauhafen gebaut.

Und der Sicherheitshafen? Er versandete und

wurde zu einem – wenn auch gigantischen und langgestreckten – Tümpel.

Ebd., S. 95.

Ein zugegebenermaßen hübscher Tümpel, wie das Bild um 1890 zeigt.

Hafenbecken in südlicher Blickrichtung. Um 1890, Fotograf unbekannt. Im Hintergrund ist die Kirche St. Kunibert zu sehen. Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf031887.

Das Ende des Hafens

So kam es, wie es kommen musste. Die Stadt entschied, dass der Hafen zugeschüttet werden sollte. Nicht zuletzt konnte Stadtbaumeister Josef Stübben auf diese Weise das Bauprojekt der Ringe fertigstellen. Die Ringe traten an die Stelle der mittelalterlichen Stadtbefestigung. Von 1895 bis 1896 verfüllten Bauarbeiter das Becken wieder mit Erde und legten einen Park am nördlichen Ende der Ringe an.

Parkanlage Deutscher Ring, 1899. Das Bild zeigt den heutigen Ebertplatz und dahinter den Theodor-Heuss-Ring. Fotograf unbekannt, gemeinfrei.

Dieses letzte Teilstück der Ringe hieß damals Deutscher Ring, heute Theodor-Heuss-Ring. Der Park ist der Theodor-Heuss-Park und hat in seiner Mitte einen Teich. Er erinnert, wenn auch in kleiner Form, an den vormaligen „gigantischen Tümpel“. In den 1970er Jahren dokumentierten Archäologen im Zuge von Bauarbeiten im Park die Reste des früheren Sicherheitshafens.

Sprung zurück in die Zeit und 500 Meter Richtung Rhein: Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts baute die Stadt Köln am Eingang des Sicherheitshafens eine Kaponniere. Eine Kaponniere ist ein massiver Raum in einer Festigungsanlage, um Angreifer im Befestigungsgraben beschießen zu können. Die Verteidigungsrichtung war in diesem Fall der Rhein.

Als der militärische Nutzen der Kaponniere passé war, setzte Architekt Wilhelm Riphahn 1923/1924 auf ihre Fundamente einen expressionistischen Restaurantbau: die Bastei. Ihr Überbau ragt mehrere Meter über das Rheinufer und muss den Gästen eine wunderbare Sicht beim Dinieren geboten haben. Der Restaurantbetrieb ist nun schon seit einigen Jahren geschlossen.

© Superbass / CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)

So bleiben von dem einstigen Großbauprojekt noch ein Weiher im Park und die Fundamente, auf denen heute die Bastei steht. Ach ja, und der Kronleuchtersaal. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal…

Zum Weiterlesen:

Mario Kramp, „Der ganze Bau stand von vornherein unter einem Unglücksstern.“ Der Sicherheitshafen: Köln und seine Großbaustelle 1788-1896, in: Geschichte in Köln 2017 (1), S. 71-97: ausführlicher Überblick über eine laaaaaaaange Baugeschichte.

https://www.ebertplatz.de/wiki/Sicherheitshafen.html: Website rund um den Ebertplatz, die einen Abriss zum benachbarten Sicherheitshafen bietet.

https://museenkoeln.de/portal/bild-der-woche.aspx?bdw=2008_48: Hier gibt es mehr Infos zur Bastei, inklusive eines sehr schönen Nachtbildes.

Die Südbrücke

Die Hohenzollernbrücke, das weiß Wikipedia zu berichten, ist die am häufigsten befahrene Eisenbahnbrücke Deutschlands. Hier fahren täglich über 1220 Züge lang – was jeder, der schon einmal warten musste, weil die Gleise belegt waren, sofort glaubt. Die Güterzüge fahren über die Südbrücke, wo es etwas beschaulicher zugeht. Diese Brücke schauen wir uns genauer an.

Über sieben Brücken…

Köln hat sieben Rheinbrücken. Rechnet man großzügig, sind es siebeneinhalb, weil die Leverkusener Brücke linksrheinisch an Köln-Merkenich grenzt. Intra muros, also innerhalb der früheren mittelalterlichen Stadtbegrenzung, stehen heute drei Brücken. Von Norden nach Süden kommt zuerst die Hohenzollernbrücke direkt am Dom, dann die Deutzer Brücke und dann die Südbrücke.

Die Südbrücke ist ein Kind der Industrialisierung und des wachsenden Eisenbahnverkehrs. 1859 war die Dombrücke, der Vorläufer der Hohenzollernbrücke, fertig. Im selben Jahr wurde direkt neben dem Dom der Zentralpersonenbahnhof eröffnet. Der Zentralpersonenbahnhof reicht bald nicht mehr aus und wurde zum neuen Hauptbahnhof umgebaut. Er öffnete 1894 seine Pforten. Das Nadelöhr, durch das alle Züge hindurch mussten, war – damals wie heute – die Brücke neben dem Hauptbahnhof.

Deshalb schloss sich an den Hauptbahnhof ein Infrastrukturprojekt an, um den Zugverkehr anders durch Köln zu leiten. In diesem Zuge baute die Königlich-Preußische Eisenbahn zwischen 1906 und 1910 die Südbrücke. Über sie sollte der Güterverkehr laufen, der dann nicht mehr die Hohenzollernbrücke in Beschlag nahm. 1911 wurde nämlich die erneuerte Dombrücke, nunmehr Hohenzollernbrücke, fertig. Und die dritte im Bunde war die Brücke dazwischen: Ab 1915 stand die Deutzer Hängebrücke, Vorläufer der Deutzer Brücke an derselben Stelle. Sie war vor allem für den Straßenverkehr gedacht.

Zwischen Friedenspark und Poller Wiesen

Die Südbrücke, linksrheinisch

Die Südbrücke verbindet Bayenthal / Neustadt-Süd mit Poll/Deutz. Sie verläuft entlang Grenze zwischen den Stadtteilen, deshalb ist es einfacher, sich an Parks zu orientieren: Die Brücke führt vom linksrheinischen Friedenspark zu den rechtsrheinischen Poller Wiesen. Die Hauptkonstruktion besteht aus drei stählernen Bögen und ist hier gut zu sehen.

Die Südbrücke, linksrheinisch

An die Hauptbrücke schließen Vorlandbrücken an. So heißen die Teile einer einer Brücke, deren Pfeiler an Land stehen. Besonders spektakulär ist die linksrheinische Vorlandbrücke mit reich verzierten Pfeilern und Türmen.

Dieser Teil der Brücke besteht aus Beton und ist mit rötlichem Sandstein verkleidet. Die aufmerksame Beobachterin entdeckt an Pfeiler und Turm einige Verzierungen und Details. Am Pfeiler zwischen den vier Spuren der Rheinpromenade wohnt zum Beispiel ein bärtiger alter Herr mit langem Haar und Zahnrad in der Hand. Eine Symbol für die Industrie?

Linksrheinischer Pfeiler der Vorlandbrücke

Die Architektur der Südbrücke machte am Anfang des 20. Jahrhunderts bewusst Anleihen am Mittelalter. So erinnert das linksrheinische Turmpaar an mittelalterliche Wachtürme. Die Türme waren anfangs Treppenaufgänge für Fußgänger, dienen aber heute nicht mehr diesem Zweck.

Die linksrheinische Torbauten

Auch hier finden wir reiche Verzierungen, etwa beim Treppenaufgang. Das Portal wird von geometrischen floralen Mustern gekrönt, darüber entdecken wir das Kölner Stadtwappen.

Tor zum Treppenaufgang

Was macht die Südbrücke besonders?

Besonders ist vor allem, dass Teile der ursprünglichen Architektur erhalten sind. Zwar wurde die Brücke 1945 beschädigt, aber weniger dramatisch als viele andere Rheinbrücken. Die Bogenkonstruktion und die historistische Bauweise vom Anfang des 20. Jahrhunderts sind für uns heute noch sichtbar. Besonders sind übrigens auch die Eigentumsverhältnisse: Die Brücke selbst gehört der Deutschen Bahn, aber die Stadt Köln unterhält und pflegt die Gehwege. Und das übrigens schon seit 1910!

Die Südbrücke zeigt auch, wie sich Anforderungen an Verkehr verändern. Sie ist für Fahrradfahrer nervig, weil man das Rad, idealerweise nicht schwer beladen, hochtragen muss. Für Rollifahrer, weniger mobile Menschen oder jene mit Kinderwagen ist sie kaum nutzbar. Den Rhein zu überqueren, kann also auch 2023 eine Herausforderung sein. Liebe Stadt Köln, tu mal was dran!

Links:

https://www.koelnreporter.de/op-jueck/koelner-rheinbruecken.html bietet einen Überblick über die Kölner Rheinbrücken.

https://www.stadt-koeln.de/artikel/03432/index.html verrät Details zu Länge, Spannweite und den Eigentumsverhältnissen der Brücke.

Eisenbahnbegeisterte und Technikliebhaber werden Freude an dieser Seite haben: https://www.rheinische-industriekultur.com/seiten/objekte/orte/koeln/objekte/bruecke_sued.html

Die Kölner Kartause

Spaziert man nördlich des Sachsenrings durch das Severinsviertel, stolpert man über mehrere Straßenschilder, die alle etwas gemeinsam haben. Ob Wall, Hof oder Gasse – sie alle tragen die Kartäuser im Namen. Manchmal trifft der Kartäuserwall auf den -hof:

Manchmal sieht die aufmerksame Spaziergängerin alte Straßenschilder:

Und manchmal ist es sogar ein sehr altes Straßenschild und noch dazu eine alte Schreibweise der Kartäuser…

Wer oder was waren die Kartäuser? Warum erinnern drei Straßenschilder zwischen Ulrepforte, Sachsenring und Severinstraße an sie? Und was verbindet diesen Teil des Severinsviertels mit einem grünen Kräuterlikor aus Frankreich? Das schauen wir uns jetzt genauer an!

Ein Mönchsorden an der Stadtmauer

Die Kartäuser waren ein katholischer Orden. Sein Gründer Bruno stammte aus Köln, legte den Grundstein für den Orden am Ende des 11. Jahrhunderts aber im heutigen Südostfrankreich, in der Nähe von Grenoble. Der Name Kartäuser geht auf das Gebirgsmassiv Chartreuse in den Voralpen zurück. Hier gründete Bruno mit Gefährten das Mutterkloster des Kartäuserordens: la Grande Chartreuse (die große Kartause). Eine Kartause ist also ein Kloster der Kartäuser und die große Kartause ist das Mutterschiff aller Kartausen.

Der Kartäuserorden ist ein kontemplativer Orden, dessen Angehörige sich ähnlich wie die Karmelitinnen auf der anderen Seite der Ulrichgasse dem Schweigen und Beten verschrieben haben. Die ersten Kartausen waren Männerklöster, im 12. Jahrhundert schlossen sich erstmals Frauen in einem Kartäuserinnenkloster zusammen.

Die Kölner Kartause wurde 1334 gegründet, gut 250 Jahre nach der Ordensgründung. Das Bauland befand sich am südlichen Ende der mittelalterlichen Stadt, direkt an der Stadtmauer. Auf dem Areal stand bereits eine Kapelle, die der heiligen Barbara geweiht war. Die Mönche übernahmen diese Widmung für ihre Klosterkirche. Die Kartause wuchs im Laufe der Zeit räumlich sowie personell, wurde mit vielen Schenkungen bedacht und legte sich eine umfangreiche Bibliothek zu.

Die napoleonischen Truppen brachten den Kartäusern – wie den Karmelitinnen – in Köln das Ende. Die Kartause wurde säkularisiert, die Mönche mussten das Kloster verlassen und der Orden wurde aufgelöst. Es folgten wechselhafte Zeiten für das Kloster. Die Franzosen und später die Preußen waren im 19. Jahrhundert wenig zimperlich in der Nutzung und rissen das Gelände teilweise ab. Die Preußen brachten unter anderem Pferde und Munition in den Gebäuden unter.

In den 1920er Jahren wurde die Kartäuserkirche, ehemals St. Barbara gewidmet, im Rahmen eines Kirchentauschs schließlich evangelisch. St. Pantaleon war katholisch geworden, weshalb die evangelische Gemeinde eine neue Bleibe suchte und in der Kartäusergasse fündig wurde.

Und damit schließt sich der Kreis zu unseren Straßenschildern. Ulrich- und Kartäusergasse, Kartäuserhof und Kartäuserwall umschließen das Gelände der alten Kartause, die es so nicht mehr gibt. Das Klosterareal, das damals am Stadtrand war, ist nun mittendrin. Die Kartause bietet die Zutaten einer klassischen Kölner Geschichte: reiches mittelalterliches Kloster, Ende mit der französischen Besetzung und Umnutzung durch die Preußen. Darauf stoßen wir an, zum Beispiel mit einem empfehlenswerten Kräuterlikör namens Chartreuse. Der wird übrigens von den Kartäusern noch heute in der Grande Chartreuse bei Grenoble hergestellt…

Zum Weiterlesen:

https://www.kartaeuserkirche-koeln.de/kartause.aspx
Die Kartäusergemeinde hat viele Informationen über ihr historisches Gelände zusammengetragen. Es lohnt sich reinzulesen!

Völkerkunde und Kammerspiele

Wie das Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM) zu seinem Namen gekommen ist, darum drehte sich der letzte Blogbeitrag. Heute soll es um das Gebäude am Ubierring 45 gehen, in dem das Museum bis zum Umzug ins neue Quartier 2010 beheimatet war. Der Ubierring 45 hat seit dem Bau 1904 verschiedene Gäste kommen und gehen sehen. Wir wollen schauen, welche Spuren sie im Straßenbild hinterlassen haben. Also auf in die Südstadt!

Metamorphosen eines Gebäudes

1899 hatte Adele Rautenstrauch die ethnologische Sammlung ihres Bruders Wilhelm Joest der Stadt Köln überlassen. 1901 stiftete sie zudem eine hohe Geldsumme, damit die Stadt ein Museum für eben jene Sammlung bauen konnte. Die Stifterin starb vor Beginn der Bautätigkeit 1904, sodass letztlich ihre Kinder den Bau und die Fertigstellung begleiteten. 1906 eröffnete das Museum. Folgendermaßen sah das RJM um 1910 aus:

Postkarte des RJM um 1910, gemeinfrei

Ein imposantes Gebäude, das im Zweiten Weltkrieg wie große Teile der Altstadt von Bomben getroffen wurde. Während das Hauptgebäude weitgehend intakt blieb, erlitten die Nebentrakte schwere Schäden. Nach 1945 waren phasenweise die Kammerspiele im ehemaligen Museum untergebracht. Hierfür wurden u.a. die Fenster in der ersten Etage des Haupttraktes zugemacht, um den Saal zu verdunkeln.

1967, über 60 Jahre nach der Eröffnung, kehrte das RJM an den Ubierring zurück. Allerdings stellten sich in den folgenden Jahrzehnten die Räumlichkeiten als zu klein heraus. Zudem waren die Depots aufgrund der Rheinnähe wiederholt überflutet. Deshalb zog das Museum nach langem Vorlauf und einigem Planungswirrwarr 2010 ins Kulturquartier zwischen Neu- und Heumarkt. Hier teilt es sich heute ein Gebäude mit dem Museum Schnütgen für mittelalterliche Kunst.

An den Ubierring 45 ist nach längeren Baumaßnahmen eine Schule gezogen. Das frühere RJM beherbergt nun die Igis, die Integrierte Gesamtschule Innenstadt. Vom Museum über die Kammerspiele bis hin zur Schule – welche Spuren hat die unterschiedliche Nutzung in der Fassade hinterlassen?

Spuren der Vergangenheit

Ubierring 45, Haupttrakt

So präsentiert sich die Igis in der Frontalansicht von der Haltestelle Ubierring aus. Auf dem Foto nur zu erahnen sind die beiden Seitenflügel, von denen der rechte auf folgendem Bild zu sehen ist.

Nebentrakt des ehemaligen RJM

Wir erkennen mühelos den Museumsbau von der Postkarte um 1910 wieder: ein dreiflügeliges Gebäude mit zurückgesetztem Haupttrakt, Eingang mit drei Toren und prächtig dekoriertem Giebel. In diesem Bereich hat die Museumsvergangenheit die deutlichsten Spuren hinterlassen.

Ubierring 45, Giebelwand

Starten wir oben. Das Wappen Kölns ist auch schon auf der Postkarte zu erkennen. Es besteht aus einem Schild mit elf Flammen, Anspielung auf die heilige Ursula mit ihren zehn Gefährtinnen, und drei Kronen darüber, die auf die Reliquien der drei heiligen Könige verweisen. Dahinter ist der Doppeladler mit Schwert und Zepter in den Krallen zu erkennen. Er steht für den mittelalterlichen Status Kölns einer freien Reichsstadt. Das Wappen ist prächtig eingefasst und atmet den Geist des frühen 20. Jahrhunderts.

Unter dem Gesims sehen wir die Inschrift Rautenstrauch-Joest-Museum. Auch die drei Köpfe unterhalb der zweiten Etage verweisen auf die Museumsvergangenheit. Sie stellen von links nach rechts stereotyp einen Mann mit dunkler Hautfarbe, eine Frau mit asiatischen Zügen und einen amerikanischen Ureinwohner dar. Damit stehen sie wohl sinnbildlich für die Erdteile, die im Museum abgedeckt wurden. Zugleich wecken sie unangenehme Erinnerungen an Völkerschauen und verweisen noch einmal auf das koloniale Erbe deutscher ethnologischer Museen. Oberhalb des mittleren Kopfes sind die Baujahre 1904 bis 1906 in einer Fassung verewigt.

Mittlerer der drei Köpfe, Darstellung Asiens, darüber die Bauzeit des Museums

Aus der Zeit, als das Gebäude den Kammerspielen diente, stammen vier Sgraffiti. Sgraffiti sind Wandkunstwerke, die aus mehreren Putzschichten bestehen und durch Abkratzen der einzelnen Schichten ein flächiges Bild ergeben. Sie sind neben dem Balkon zu sehen und zeigen musisch-darstellerische Motive.

Die Sgraffiti von links nach rechts: Mandoline, Maske, Blasinstrument und Harfe mit Maske

Die vier Sgraffiti wurden neben drei weiteren im Zuge von Umbauarbeiten für die Igis 2020 freigelegt. Als die Bauarbeiter Tuffsteinplatten abnahmen, um Fenster einzusetzen, kamen die Malereien zum Vorschein. Der Fund war eine Überraschung, weil man die Wandmalereien schlicht vergessen hatte. Die Sgraffiti gehen auf den Maler Otto Gerster, Professor an den Kölner Werkschulen (der heutigen TH Köln) zurück. Er gestaltete sie 1948 gemeinsam mit Schülern.

Zwar wurden die Wandmalereien mit Tuffsteinplatten abgedeckt, als das RJM 1967 wiedereröffnete und die Motive nicht mehr passten. Dabei aber schützten Trennschichten die Sgraffiti, weshalb sie 2020 in sehr gutem Zustand freigelegt werden konnten. Die sorgfältige Abdeckung in den 1960er Jahren spiegelt wohl das damalige Bewusstsein um den künstlerischen Wert der Darstellungen wider. Später gerieten sie in Vergessenheit, um 2020 wiederentdeckt zu werden. Merke: Renoviert man eine Schule, können Überraschungen zu Tage treten!

1904 bis 1906, 1948, 1967 – was ist mit den aktuellen Nutzern? Welche Spuren hat die Schule am Ubierring 45 hinterlassen? In jedem Fall schon einmal einen aktuellen Aufruf gegen Rassismus, der an der Eingangstür zu sehen ist und den Abschluss unserer Spurensuche bildet: Kein Veedel für Rassismus!

Eingangstür der Igis

Zum Weiterlesen:

Die Stadt Köln hat 2020 und 2021 mehrere Pressemitteilungen zur Entdeckung und dem Umgang mit den Sgraffiti veröffentlicht:
https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/mitteilungen/21546/index.html
https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/museum-ist-nun-schule
https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/mitteilungen/24128/index.html

Rautenstrauch+Joest=Museum

Die Namen Rautenstrauch und Joest begegnen uns allein und in Kombination an verschiedenen Orten in Köln. In Lindenthal führt eine Rautenstrauchstraße direkt entlang des Kanals. Sie quert den Gürtel, sodass ein kleiner Straßenzipfel am Stadtwald endet. Parallel zu diesem Straßenzipfel, ebenfalls zwischen Gürtel und Stadtwald, verläuft die Joeststraße. In Kombination finden wir beide Namen am Ubierring 45. Hier steht das alte Rautenstrauch-Joest-Museum, wovon noch die Fassade kündet.

Altes Rautenstrauch-Joest-Museum am Ubierring

Das neue Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM) befindet sich seit 2010 an der Cäcilienstraße, zwischen Neumarkt und Heumarkt. Es ist das ethnologische Museum der Stadt Köln, dessen Ausgangspunkt die Sammlung eines Herrn Joest war. Und damit sind wir schon mittendrin bei der Frage: Wie kommen die Namen Rautenstrauch und Joest in das RJM?

Industrialisierung made in Cologne

Alle Wege beginnen bei Napoleon, so auch dieser. Als die Franzosen 1794 in Köln einmarschierten, trafen sie auf eine Stadt, die im Mittelalter stehen geblieben war. In den Folgejahren modernisierten die Franzosen das Rechts- und Wirtschaftssystem der Stadt. Sie sorgten für Religions- und Gewerbefreiheit für Protestanten sowie Juden und schafften die Zünfte ab. Erst jetzt war es Nichtkatholiken in Köln erlaubt, Immobilien zu erwerben. Diese Neuerungen überdauerten die Franzosenzeit und blieben in Kraft, als die Stadt 1814 Teil Preußens wurde. Sie bildeten die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung.

Ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts gingen protestantische Unternehmer u.a. aus dem Bergischen Land an den Rhein, um hier wirtschaftlich tätig zu werden. Sie arbeiteten in der Zuckerwirtschaft, im Handel mit Tierhäuten, im Bankgewerbe. Kölner Banken sowie Unternehmen beteiligten sich am Bau der frühen Eisenbahnen im Rheinland und legten Zechen im Ruhrgebiet an. Kurzum, die Industrialisierung kam in der Stadt an.

Natürlich waren nicht alle Unternehmer der Zeit protestantisch. Die beiden Familien, um die es hier geht, fallen aber genau in die Gruppe jener, die angelockt durch die Religions- und Gewerbefreiheit ihr wirtschaftliches Glück am Dom suchten. Rautenstrauchs importierten Tierhäute für die Gerberei. Der Stammsitz des Unternehmens war in Trier, Ludwig Theodor Rautenstrauch baute ab den 1820er Jahren das Kölner Zweiggeschäft auf. Joests wiederum stammten aus Solingen und waren in der Zuckerindustrie tätig. Carl Joest gründete 1831 eine Zuckerraffinerie in Köln. Die Geschäfte liefen so gut, dass Joest Ende der 1830er Jahre der größte Steuerzahler der Stadt war.

Der Sammler und die Mäzenatin

Springen wir in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rautenstrauchs und Joests zählten inzwischen zu den wohlhabenden Industriellenfamilien Kölns. Maßgeblich für das RJM sind die Enkelkinder Carl Joests: Wilhelm Joest und seine Schwester Adele, verheiratete Rautenstrauch.

Wilhelm Joest im Jahr 1891, gemeinfrei

Wilhelm Joest lebte von 1852 bis 1897. Er nutzte das Familienvermögen für Forschungsreisen rund um die Welt. Sie führten ihn nach Asien, Nord- und Südamerika und Afrika. Auf seinen Reisen baute er eine ethnografische Sammlung auf mit

gekauften, getauschten und erbeuteten Objekten (…).

https://suedostasien.net/museen-als-verhandlungsorte-fuer-dekolonisierungsprozesse/


Seine Sammlung umfasste menschliche Überreste wie Schädel, aber auch Schüsseln und Schmuck. Als er 1897 auf einer seiner Reisen starb, hinterließ er die Objekte seiner Schwester Adele Rautenstrauch (1850-1903).

Adele Joest, die 1872 in die Familie Rautenstrauch eingeheiratet hatte, vermachte die Sammlung 1899 der Stadt Köln. Nach dem Tod ihres Mannes Eugen Rautenstrauch im Jahr 1901 stiftete sie zudem 250 000 RM für den Bau eines Museums, das die Objekte zeigen sollte. Bedingung war, dass das Museum die Namen Rautenstrauch und Joest tragen sollte. So öffnete das Rautenstrauch-Joest-Museum 1906 am Ubierring in der Südstadt seine Pforten.

Gekauft, getauscht und erbeutet

Die Joest’sche Sammlung war der Ausgangspunkt für das Museum. Sie ist durch Objekte von Adele und Eugen Rautenstrauch, durch Schenkungen und Käufe beständig angewachsen. Das RJM muss sich wie viele europäische Museen mit der Frage beschäftigen, unter welchen Umständen die Exponate in seinen Besitz gekommen sind. Diese Aufgabe übernimmt die sogenannte Provenienzforschung.

Bei einem ethnologischen Museum geht es vor allem darum, welche Rolle koloniale Bedingungen beim Aufbau der Sammlung gespielt haben: Wie freiwillig wurde ein Gegenstand überlassen? Wurde er gegen ein anderes Objekt eingetauscht, gekauft, geklaut oder heimlich mitgenommen? Gehören menschliche Überreste wie Schädel zur Sammlung und wie sind sie in das Museum gelangt? Kurzum, wie sehr spiegelt sich die koloniale Sichtweise auf „unzivilisierte Völker“ in den Museen wider?

Manchmal ist das Ergebnis der Provenienzforschung, dass Objekte unrechtmäßig in Museen gelandet sind und an die Eigentümer oder das Land, aus dem sie stammen, zurückgehen. So hat das RJM 2018 einen Maori-Schädel nach Neuseeland zurückgegeben. Über welche Wege genau er zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Köln gelangt ist, bleibt unklar. Klar ist, dass Neuseeland ein Repatriation-Programm initiiert hat, um menschliche Überreste aus Museen weltweit wieder an die Maori-Communitys zurückzugeben. Im Frühsommer 2018 hat eine Delegation aus Neuseeland den Schädel in einer feierlichen Zeremonie im Museum in Empfang genommen.

An der Stelle schließt sich der Kreis zu Adele Rautenstrauch und Wilhelm Joest. Sie stehen für den Aufstieg von Industriellenfamilien in Köln im 19. Jahrhundert und ihr Mäzenatentum zum Wohle der Stadt. Gleichzeitig erinnern ihre Namen an die kolonial-rassistische Perspektive, die der Ausgangssammlung des RJM zugrunde lag und das Museum bis heute beschäftigt.

Zum Weiterlesen und -hören:

https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Epochen/1794-bis-1815—aufbruch-in-die-moderne.-die-%22franzosenzeit%22/DE-2086/lido/57ab23d29508f8.06009224
Guter Überblick über die Veränderungen Kölns während der Franzosenzeit, aka das Ende des Mittelalters am Rhein.

Ulrich Soénius hat 2002 einen Vortrag über die protestantischen Zuwanderer gehalten, die die Industrialisierung im 19. Jahrhundert nach Köln gebracht haben. Joests und Rautenstrauchs tauchen hier auf.

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/erlebtegeschichten/rautenstrauchludwigtheodor100.html
Ludwig Theodor Rautenstrauch (1922-2018), Enkel von Adele Rautenstrauch, berichtet von seiner Familiengeschichte. Sehr interessant zu hören, ein wilder Ritt durch über 200 Jahre Familien- und Kölner Geschichte.

https://www.kuladig.de/Objektansicht/KLD-310614
Die Grabstätte der Rautenstrauchs auf dem Friedhof Melaten hat einen Eintrag in der Datenbank Kultur.Landschaft.Digital.

Über die Rückgabe des Schädels aus dem RJM nach Neuseeland berichtete 2018 der Deutschlandfunk. Da das RJM ein städtisches Museum ist, musste der Stadtrat der Übergabe zustimmen. Eine recht ungewöhnliche Beschlussvorlage: https://ratsinformation.stadt-koeln.de/getfile.asp?id=649017&type=do

Weitere Restitutionsprojekte laufen im RJM. Im Sommer 2022 gab es im Museum eine Podiumsdiskussion zu einem Lefem, einer Holzstatue aus Südwestkamerun: https://www.youtube.com/watch?v=wor5ue-TPqg

Nachtrag: Ende November 2022 gab es das passende WDR-Zeitzeichen zum 125. Todestag von Wilhelm Joest. Es geht genauer auf die Rolle von Gewalt in Joests Leben ein, sei es in seiner Ehe oder bei seiner Forschung: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/zeitzeichen-todestag-wilhelm-joest-100.html

Griechische Götter in Lindenthal

Am Rautenstrauchkanal in Lindenthal tummeln sich Schwäne, Stockenten, ein Reiher, eine Schildkröte – und griechische Gottheiten. Wir gehen heute zum östlichen Ende des Kanals und schauen uns an, was da links und rechts des Kanals thront.

Der Rautenstrauchkanal endet am Karl-Schwering-Platz in einem runden Becken mit Schilf und Fontäne. Den Eingang zum Rundbecken bewachen zwei Skulpturen auf weißen Sockeln. Beide Skulpturen zeigen Gestalten aus der griechischen Mythologie, nämlich einen Zentaur und eine Najade. Zentauren sind als Mischwesen mit menschlichem Oberkörper und dem Unterkörper sowie Beinen eines Pferdes bekannt. Najaden wiederum waren in der altgriechischen Vorstellung Nymphen, Naturgottheiten, die über Flüsse und andere Gewässer wachten. Nähern wir uns der rechten Figurengruppe an, offenbart sich folgendes Bild.

Figurengruppe Kentaur und Najade II
Figurengruppe Kentaur und Najade II in Vorderansicht mit versteckter Najade

Es ist kein sehr idyllisches Szenario. Die vordere Figur, der Zentaur, hat einen zornigen Gesichtsausdruck, den Mund weit geöffnet und die Augen zu Schlitzen verengt, den Oberkörper zurückgelehnt. Er scheint einen großen Gegenstand (einen Stein?) in den mächtigen Pranken zu halten und nach vorn zu schleudern. In der Vorderansicht sind die stilisierten Pferdebeine zu erkennen. Die hintere Figur ist eine nackte Frauengestalt, die Najade. Der Zentaur wendet ihr den Rücken zu, sie hat einen Arm schützend erhoben und wendet sich seitlich sitzend ab. Gleichzeitig blickt sie auf den Zentaur, den Mund leicht geöffnet und die Haare zu Berge stehend.

Kentaur und Najade II

Auf der linken Kanalseite geht es beschaulicher zu. Auch hier sehen wir eine männliche Figur, den Zentaur, im Vordergrund und eine weibliche, die Najade, dahinter. Der Zentaur lehnt seinen mächtigen Oberkörper zurück und stützt sich mit einem Arm dahinter ab. Den anderen Arm hält er vor seiner Brust. Der Kopf ist nach vorn geneigt, der Mund zu einem Lächeln verzogen. Das Gesicht erinnert mit dem Schnurrbart ein wenig an ein Walross.

Kentaur und Najade I
Kentaur und Najade I, Blickrichtung Rundbecken

Dahinter sitzt die Najade mit einem Kleiderüberwurf. Ihre Brüste liegen frei, in einer Hand hält sie ein Saiteninstrument, in der anderen den Überwurf. Wieder ist der Mund leicht geöffnet, allerdings lächelnd. Es wirkt, als stimme sie ein Liedchen an. Dazu passt auch der erhobene Kopf. Die Haare stehen nicht zu Berge, sondern liegen zivilisiert am Kopf an.

Kentaur und Najade I

Wie kommen die Figuren an den Kanal?

Die Kanalanlage wurde 1925 nach den Vorstellungen des Stadtplaners Fritz Schumacher angelegt. Die Lindenthaler Kanäle sollten den inneren und den äußeren Grüngürtel miteinander verbinden. In der Tat kann man heute vom Aachener Weiher über den Clarenbach- und Rautenstrauchkanal bis zum Stadtwald spazieren. Im Zuge des Kanalbaus fertigte der Bildhauer Eduard Schmitz 1930 die Statuen am Rundbecken an. Vorbild für die Anlage war übrigens die Düsseldorfer Königsallee. Es ist nicht ganz so mondän geworden, dafür reicher an Tieren als die Kö: Neben den Wasserbewohnern gibt es viele Fledermauskästen in den Bäumen und wenn man abends aufmerksam schaut, sieht man die Fledermäuse durch die Luft sausen.

Warum gerade Zentauren und Najaden in dieser Kombination das Rundbecken bewachen, kann ich nur vermuten. Zwar gibt es mit Cheiron, dem Lehrmeister von Achilles, und Chariklo ein berühmtes Zentaur-Najaden-Paar in der griechischen Mythologie. Allerdings habe ich keine passende Geschichte zu der zornigen und der friedfertigen Figurengruppe gefunden.

Es ist verlockend anzunehmen, dass die Wahl der Gestalten Gebäuden in der Umgebung geschuldet ist. Der Zentaur Cheiron als Lehrmeister diverser Helden könnte für die Schulen stehen. Immerhin befinden sich die Liebfrauenschule und das Apostelgymnasium in weniger als 100 Meter Entfernung vom Kanal. Allerdings waren beide 1930 noch nicht an ihren jetzigen Standorten. Allein bei der Najade ist der Bezug klar: Als Hüterin der Gewässer soll sie über den Kanal wachen und hoffentlich auch über die Entenküken, die im Frühjahr das Herz der Spaziergänger erfreuen!

Zum Weiterlesen:

https://www.kuladig.de/Objektansicht/KLD-311650
Die Lindenthaler Kanäle in der Kulturdatenbank des Landschaftsverbandes, inklusive der Baugeschichte.

https://archive.org/details/roscher1/Roscher21IK/page/n521/mode/2up?view=theater
https://archive.org/details/ausfhrlichesle0301rosc/page/262/mode/1up?view=theater
Das Ausführliche Lexikon der griechischen und römischen Mythologie ist komplett digitalisiert und online verfügbar. Es weiß einiges über Zentauren und Najaden zu berichten. Sehr ausführlich, Altgriechischkenntnisse helfen sicher…